Konstruierte Wahrnehmung und die Ebene im Raum
Übersetzung aus dem Englischen: Herwig Engelmann
Mark Gisbourne / 2008
Eine unschuldige Wahrnehmung kann es nicht geben. Was wir von der Welt sehen, ist immer nur das Resultat eines Vorgangs, bei dem wir unterschiedliche Grade von wahrnehmender Bewusstheit erlangen. Der Akt des Hinsehens spielt dabei die Rolle einer aktiven oder passiven, angleichenden Erfahrung, die sich immer aus einem Aufnehmen und einem nach außen Abgeben zusammensetzt. Allgemein kann man unterscheiden zwischen dem Hinsehen, das eigentlich ein rezeptiver Vorgang ist, und dem Suchen, bei dem die Wahrnehmung einem mehr oder weniger klaren, gerichteten Impuls folgt.1
In unserer Wahrnehmung sind zwei Arten von Bewusstsein am Werk: das phänomenale und das psychologische. Natürlich schließt die phänomenal-psychologische Wahrnehmung immanente Inhalte und deren Wechselwirkung mit der Erfahrung eines Kunstwerks mit ein.2 Denn immer noch besteht ein Kunstwerk wesentlich in seiner Immanenz – im Gegensatz zur Wahrnehmung, die ja gerade über sich selbst hinausgeht und das aufsucht, was entweder jenseits ihrer selbst liegt oder überhaupt nicht da ist. Das lateinische Wort für Wahrnehmung, perceptio, hatte ursprünglich die Bedeutung von Einsammeln, Vergleichen, Prüfen. Die perceptio verwirklicht sich im Akt des Besitzergreifens und in einer entsprechenden Disposition des Geistes und der Sinne. Nicht zuletzt mit den modernen Methoden der Fotografie ist die Vorstellung eine Wahrheit im rezipierten Phänomen – im Gegensatz zur psychologischen Wahrheit des Betrachters – jedoch komplizierter und unbestimmter geworden.
Der Düsseldorfer Künstler Hannes Norberg konstruiert und erzeugt fotografische Wahrnehmungserfahrungen. Mit anderen Worten: Er schafft Bilder, die in einem unbestimmten Raum zwischen den Phänomenen und der Psychologie operieren. Das hat zunächst einmal die Wirkung, den alten cartesianischen Hut des Leib-Seele-Problems abzulegen,3 ohne zugleich der noch älteren Vorstellung von vorgegebenen idealen Formen anheim zu fallen.4
Schon vor langer Zeit hat der französische Kunsttheoretiker Henri Focillon viele strittige Fragen rund um die Bedeutung und Komplexität der Formen schlüssig beantwortet, ohne sich in einem Entweder-Oder zwischen konstruierender Wahrnehmung und innerer Idee zu verstricken. „Statt dessen müssen wir uns die Form in all ihrer Fülle und in ihren vielen zeitlichen Stadien vorstellen: Form als Konstruktion von Zeit und Raum, und je nachdem, ob sie in der Ausgewogenheit der Massen, in den Abstufungen zwischen Hell und Dunkel, in Ton, Pinselstrich und Körnung zum Ausdruck kommt, oder ob sie eine architektonische, skulpturale, gemalte, gravierte oder gedruckte ist.“5
Nun schrieb Focillon vor dem 2. Weltkrieg und damit vor Erfindung der modernen Konzeptfotografie. Aber seine Gedanken lassen sich ohne Mühe auf das zeitgenössische fotografische Bild mit all seiner Komplexität übertragen. In der heutigen Fotografie sind, vielleicht mehr als in jedem anderen Medium, Form und Wahrnehmung untrennbar mit einander verschmolzen.6 Das gilt im besonderen Maß für die Arbeit von Hannes Norberg. Seine Werke entwickeln formale Beziehungen zwischen räumlichen Elementen, die er so fotografiert, dass sich alle formalen Gewissheiten hinsichtlich Massen und Größenverhältnissen auflösen.
Verschiedentlich wurde behauptet, Norbergs Bauten und Modelle und deren fotografische Abbildungen folgten einem architektonischen Interesse.7 Sicher nehmen die Architektur und der bewusst verunklarende Umgang mit dem dreidimensionalen architektonischen Raum bei diesem Künstler einen hohen Stellenwert ein. Dennoch sind sie nicht das, worum es in seinem Bilderschaffen eigentlich geht. Norberg selbst rückt sein fotografisches Werk eher in die Nähe der Malerei. Die skulpturalen Raumformen, mit denen die Architektur gewöhnlich arbeitet, sind ihm weniger wichtig. Sein Werk ist eher eine persönliche Suche nach der Autonomie des Bildes, die er irgendwo zwischen Abstraktion und Figuration vermutet und die für ihn den eigentlichen Antrieb zu seiner Arbeit bildet. Die architektonisch konstruierten Inhalte sind zwar unverzichtbar, aber zugleich nur Mechanismen der Darstellung und Teil eines umfassenderen Prozesses. Nachdem Hannes Norberg in den Achtzigerjahren damit begann, Landschaften und Architekturen zu fotografieren, folgten diese Abbilder schon bald und immer mehr der Eigengesetzlichkeit des Bildes. Aus einem gleich bleibenden Blickwinkel aufgenommen, operieren die Fotografien in einem Zustand teilweiser Aufhebung mit dem Zweck, eine verkörperte Dauer bildlich fassbar zu machen – eine Schwelle zur Zeitlosigkeit, an der die Wahrnehmung dennoch konkret spürbar und präsent ist.
Die gebauten Inhalte der Fotografien entstehen einfach aus unterschiedlich dicken Styrodurplatten, wie sie zur Wärmedämmung verwendet werden. Diese Komponenten stellt Norberg in eine bestimmte formale Beziehung zu einander – entwickelt ausgehend von kleinen Freihandskizzen und anschließend weiter aus- gearbeitet in immer detailreicheren Studien auf Millimeterpapier und in dokumentarischen Fotos. Die Bauteile bemalt Norberg zumeist, bevor sie ihren Platz im jeweiligen räumlichen Feld finden. Dabei legt er großen Wert darauf, dass das Styrodur seine ursprüngliche haptische Qualität behält. Er vermeidet es bewusst, die Herkunft des Materials in der Bearbeitung zu verschleiern oder, wie die Minimalisten, es auf unterkühlte, beziehungslose Einzelobjekte zu reduzieren.8 So gelingt es dem Künstler, das Bewusstsein für die fortgesetzte visuelle Wechselbeziehung zwischen dem Wahrnehmungsvorgang und der Idee beziehungsweise dem Urbild zu schärfen. Das Ergebnis des fotografischen Prozesses geht bei ihm insgesamt dahin, die bildlichen Aspekte gegenüber den skulpturalen Qualitäten der Modelle hervorzuheben. Besonders in seinen früheren Werken aus den Jahren 1999 bis 2002 verwendete Norberg ein stark in die Breite gehendes, fast schon friesartiges Format – Beispiele dafür sind die Arbeiten No. 9 (1999) und Nr. 27 (2001).9 Der Grund dafür ist wohl, dass dieses Format den Akzent auf das Optisch-Bildhafte und auf die zeitliche Dauer legt. Auch dass die Motive ausschließlich frontal aufgenommen wurden, erhöht die Spannung in dem oben beschriebenen Zwischenraum der Wahrnehmung. Die Bilder bezeichnen und beschreiben also einerseits eine Dreidimensionalität, betonen andererseits aber die Fläche und Planimetrie (im Sinne der Erfassung einer ebenen Oberfläche). Diese gegenseitige Durchdringung von Fläche und Tiefe erzeugt den merkwürdigen Eindruck optischer Spannung in den Bildern und bewahrt zugleich eine paradoxe Zeitlosigkeit.10
Der Raum und seine Bindung an die Ebene sind das, was uns die erwartungsvolle Ruhe in Hannes Norbergs Fotografien erschließt. Und hier fällt auf, dass sich der Umgang des Künstlers mit Planimetrie und Raum über die Jahre kontinuierlich entwickelt hat. In einer Werkserie aus den Jahren 2000 bis 2004 setzt er sich besonders mit der von Henri Focillon so genannten „Ausgewogenheit der Massen" auseinander. Er arbeitet diese Massen heraus, indem er Schatten als Farbtöne über die Oberflächen der arrangierten skulpturalen und flächigen Komponenten wirft – mit der Folge, dass sich unsere Erfahrung der unterschiedlichen Volumen verändert und die Fotografien etwas Vexierendes, einen optischen Schauder an sich haben. Stasis und Fluss werden gleichzeitig suggeriert: Stasis durch die frontalen Ebenen und Flächen und die niedrigen Horizonte der räumlichen Anordnung, Fluss durch die ins Bildinnere verlagerten Modulationen des Farbtons. Die Ebenen nehmen jene eigenständige Beschaffenheit und Qualität an, die Gilles Deleuze eine „Immanenzebene“ genannt hat um auszudrücken, dass sie nicht in ihrer Besonderheit herausgestellt, sondern als unbestimmte Einzelheiten zur Geltung gebracht werden. Diese unbestimmte Einzelheit geht bis hin zur Autonomie, und um sie zu erkennen, braucht man sich eigentlich nur zu vergegenwärtigen, dass es im Leben der Formen einen wesentlichen Unterschied zwischen formaler Autonomie und Individualität gibt. Die Räume in Norbergs Bildern werden also formal bekräftigt und zugleich in Frage gestellt. Nur deshalb kann man hier überhaupt von einem „Leben der Formen" sprechen. Was auf den ersten Blick vielleicht den Eindruck von Unpersönlichkeit und distanzierter Konstruktion erweckt, nimmt in der Folge den Charakter einer sehr persönlichen Farbmodulation an. Auch daran zeigt sich, wie nahe Norbergs Werk der Malerei steht. Eine Arbeit wie No. 60/2 (2003) hat durchaus Ähnlichkeiten mit dem „Tubismus" eines Fernand Léger oder mit den schiefen (und doch völlig raumlosen) Winkeln, die man gelegentlich bei Robert Mangold findet.11
Wenn das nun alles ein wenig weit hergeholt erscheint, so lohnt sich vielleicht umso mehr die eingehende Betrachtung der Arbeiten No. 88 (2004) und No. 95 (2005), in denen die rückwärtige Ebene durch eine Wand mit Holzmaserung hergestellt ist, oder Neue Sicht der Dinge (2005/2007), wo ein rustiziertes Architekturmodell in einem zurück springenden Raum aus schwarz-weißem und farbigem Zeitungspapier steht. Hier sind wir scheinbar nicht mehr weit von den papiers collés und den späten Collagen der Kubisten entfernt – obwohl die künstlerischen Intentionen unübersehbar verschieden sind.12 Denn während im Kubismus und in der Collage diese „fremden“ Elemente (gemeinsam mit ihrer formalen Funktion) auf Ereignisse und potenzielle Erzählungen außerhalb des Werkes verwiesen, sollen sie in den fotografischen Bildern von Hannes Norberg keine Einzigartigkeit herausstellen und auch keine bestimmte Lesart hinsichtlich Zeit und Raum festlegen. Fleißige Erforscher der frühen modernen Kunst haben viel Zeit damit verbracht, die genaue Herkunft des Zeitungspapiers in kubis- tischen Werken oder die Hersteller der Tapeten mit Holzmaserungen im frühen 20. Jahrhundert zu ermitteln. Eine ähnliche Arbeit wäre im Fall von Norbergs Bildern weitgehend sinnlos. Obwohl der Künstler bewusst Schrifttypen oder andere externe Materialien wie Landkarten z.B. bei No. 125 (2007) einsetzt, geht die Funktion dieser Elemente bei ihm nicht über das formale Kontrastieren und Integrieren hinaus. Sie verstehen sich vor allem nicht als ein gesellschaftlicher oder kultureller Kommentar.13 In gewissem Sinn sind sie für Hannes Norberg reine Abstraktionen, im Gegensatz zu Repräsentanten von etwas, das aus der Welt abstrahiert oder extrahiert worden ist. Aus Sicht des Künstlers werden die Inhalte schlicht zu kleinen Modellen verarbeitet – mit dem einzigen Zweck, sie zu fotografieren. Obwohl sie visuelle Abwechslung und zwangsläufig auch deutbare Anspielungen an die Außenwelt mit sich bringen, hat das für den Umgang mit ihnen keine Bedeutung.
Mit den Arbeiten aus dem Jahr 2005 wird dann allerdings eine neue Entwicklung im Werk von Hannes Norberg erkennbar. Die Architekturmodelle sind ab diesem Zeitpunkt nicht mehr nur frontal aufgenommen. In manchen Fällen bleibt die Raumsituation an die horizontale und vertikale Ebene gebunden, etwa in No. 86 (2005): Hier sieht man im gebauten Raum ein leicht schräg stehendes, einzelnes Styrodurelement. In S.M.N. (2005) wird dieser Ansatz weiter entwickelt, denn hier ist eine Raumebene aus einem Winkel fotografiert, der einer verlängerten Diagonale des Architekturmotivs entspricht und damit die bildimmanente Konstruktion spiegelt. Das wirkt wie die Hervorhebung einer potenziellen Lichtquelle, und es führt uns als Betrachter dazu, diese Lichtquelle gleichzeitig zu hinterfragen. Gewöhnlich wird Licht eingesetzt, um unser Erfassen von Volumen und Massen zu steuern. Doch bei Norberg ist auch der Einsatz des Lichts sehr reduziert und auf die konstruierte Wahrnehmung abgestimmt, die alle seine fotografischen Bilder definiert. Er verwendet Licht nicht, um zu dramatisieren, sondern so, dass es genau wie seine Modelle nur eine weitere Komponente darstellt. In letzter Zeit ist aber auch hier ein Wandel erkennbar, denn die zuvor sehr klaren und reduzierten Architekturmodelle erscheinen zunehmend fragmentiert. Norberg ist also dazu übergegangen, die Komponenten selbst in ihrer bloßen Bedingtheit zu offenbaren. Am deutlichsten wird das vielleicht in den Arbeiten No. 108 (2006) und No. 109 (2006). In beiden Fällen hat der Künstler die Styroelemente nicht streng architektonisch komponiert, sondern schlicht im räumlichen Feld übereinander geschichtet. Interessanterweise erinnern gerade diese Arbeiten viel eher an Landschaften als seine gewohnten Architekturen, was man durchaus als eine Rückkehr zu seinen Anfängen im Bereich der Architektur- und Landschaftsfotografie verstehen kann. Ob sie nun als Landschaften gedacht sind oder nicht – in jedem Fall sind sie sehr bildhaft. Bei No. 108 (2006) etwa muss man unwillkürlich an das kühle bläuliche Weiß einer gebrochenen Eisscholle denken.14 Auch diese Bilder operieren in einem Raum zwischen den kargen, abstrakten Komponenten als solchen auf der einen Seite, und ihren erahnbaren Bedeutungen oder interpretierbaren figürlichen Anspielungen auf der anderen. Dass die Objekte im Bild eher zufällig oder ohne besonderen Formwillen gestapelt wirken, dramatisiert ihre Präsenz. Es bedeutet auch einen gewissen Bruch mit den früheren Arbeiten, in denen Norberg den Raum ausgehend von Ebenen und Flächen her erzeugt. Im Ergebnis findet sich unsere Bildwahrnehmung hier merkwürdig vervielfacht, indem der Blick subtile Farbunterschiede registriert und an den Punkten tonaler Veränderungen einhakt.
Obwohl Malerei und bildliche Darstellung also die entscheidenden Motivationen in der fotografischen Kunst von Hannes Norberg sind, ist es dennoch notwendig, hier noch einmal auf die Architektur zurückzukommen. Denn Hannes Norberg hat sich eben immer auch für Architektur und ihre Formen als solche interessiert, und seine Neugier beschränkt sich dabei nicht auf eine bestimmte Epoche des Bauens. Sie schließt antike Gebäude wie das Pantheon in Rom ebenso wie die moderne Architektur mit ein. Wie für viele andere fotografisch arbeitende Künstler ist die Architektur auch für Hannes Norberg Ausgangspunkt einer visuellen und wahrnehmungsorientierten Auseinandersetzung. Sein Interesse entzündet sich weniger am Statischen und Voluminösen der monumentalen Bauformen, als vielmehr an jenen Aspekten der Architektur, die eng mit der Wahrnehmung selbst zu tun haben.
In einem eigens für die Kirche des Dominikanerklosters St. Paulus in Worms entstandenen Projekt gestaltet der Künstler gemeinsam mit einem Architekturbüro zur Zeit einen neuen Seiteneingang in der Art eines leicht eingetieften, zeitgenössischen Grubenhauses. Die Konstruktion besteht im Wesentlichen aus Corten-Stahlplatten, die an die Außenmauer der Kirche angebaut sind und unterschiedliche Symmetrien bzw. Asymmetrien eröffnen. In den Anbau sind mehrere Glaswände integriert, die innen zum Teil durch Siebdruck mit Kreisformen versehen und außen durch Sandstrahlung mattiert sind. Diese Kreise variieren das Muster der Butzenscheiben in den alten Kirchenfenstern. In derselben Weise ist ein schmales Oberlicht mit den Maßen 0,6 × 2,6 Meter im Zentrum des Baus gestaltet, das die Dreidimensionalität hervorhebt und zugleich auf einer Grundfläche von nur 3,2 × 4 Metern eine visuelle Schwelle einzieht. Das farbige Glas in dem Bau ist ebenfalls im Mehrfachsiebdruckverfahren hergestellt und wurde, um besonders gesättigte Farben und hohe Haltbarkeit zu erzielen, bei der Herstellung auf 650 Grad erhitzt. So erzeugt der Portalbau eine ganze Reihe mehrdeutiger Wahrnehmungen: hart und weich, strukturiert und glatt, transparent und undurchsichtig. Was er aus Norbergs Arbeit mit der Fotografie und den Modellen übernimmt, ist die visuell erschlossene Dreidimensionalität und die Spannung im Umgang mit den Raumebenen. Während die Modelle aus den Fotografien im Moment der Präsentation verschwinden, findet bei diesem Bauwerk einumgekehrter Vorgang statt. Was mit einer fotografischen Erfahrung und Erforschung von Architektur und Raum begann, wird hier auf den Status eines tatsächlichen gebauten Objektes zurückgeführt.
Mein Eindruck ist, dass Hannes Norbergs Zugang zur Architektur und zum Raum in erster Linie ein optischer ist, weniger ein konzeptioneller. Er präsentiert Dinge als Objekte oder Modelle, aber zugleich untergräbt er subtil ihre scheinbare Stabilität als Objekte. Das scheint mir zentral für Norbergs Intuition eines Raumes zwischen der Wahrnehmung und dem Urbild, also zwischen dem, was wir tatsächlich sehen und dem, was wir zu sehen glauben. Dass das Verfahren ein optisch geleitetes ist, hat mit Norbergs Faszination für alles Bildhafte zu tun. Das ist auch gemeint, wenn er sagt: „Ich versuche, mit dem Fotoapparat zu malen." Die Idee und ihre Realisierung entspringen dem Arbeitsprozess und der Haltung des Künstlers gegenüber den Funktionsweisen des Apparats. Wenn es heute möglich ist, mit einer Kamera zu malen, dann nur deshalb, weil die zeitgenössische Fotografie es geschafft hat, mit ihren eigenen Methoden die Ziele der Malerei zu erreichen. Sie hat Dinge der Fotografie einverleibt, die zuvor nur den Malern möglich waren. Als Theoretiker des fotografischen Bildes hat Vilém Flusser darin eine Querverbindung zum Modell und zum Design erkannt, indem er das „Hin- und Her zwischen Inhalt und Behältnis, zwischen Material und Form, zwischen den materiellen und formalen Aspekten der Phänomene" als eine Errungenschaft der heutigen Fotografie und ihrer Auseinandersetzung mit der Malerei bezeichnete.15 Dem zu Grunde liegt ein neues Verständnis der Wahrnehmungsvorgänge und des fotografischen Prozesses. Ich habe diese Herangehensweise schlicht eine „konstruierte Wahrnehmung“ genannt. Sie ist zugleich der Punkt, von dem das neue Bilderschaffen seit der europäischen Renaissance seinen Ausgang nahm.16
Anmerkungen:
1
In den Fünfziger- und Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts entstand die einigermaßen utopische Vorstellung, man könne mit Maschinen die menschliche Wahrnehmung simulieren. Vgl. James G. Gibson, Perception of the Visual World und The Sense Considered as Perceptual Systems, Boston und London, 1950 bzw. 1966. Weitergeführt wird der Gedanke heute noch in der Robotik, die ungefähr zur selben Zeit entstand.
2
Immanenz bedeutet „im Inneren bleiben“. Zur Immanenzebene im Sinne eines „im Inneren und obenauf“, vgl. Gilles Deleuze, Immanenz: ein Leben, in: d.s., Schizophrenie und Gesellschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005, S. 365ff.
3
René Descartes, Sechste Meditation. Über das Dasein der materiellen Dinge und die reale Unterschiedenheit von Seele und Leib, in: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg, Meiner, 1993.
4
Die Lehre von den absoluten, zeitunabhängigen Ideen bzw. Urbildern zieht sich durch Platons gesamtes Werk. Vgl. Platon, Das Trinkgelage. Über den Eros, Frankfurt, Insel 1997, außerdem die Dialoge Timäus und Kritias.
5
Henri Focillon, Das Leben der Formen, München, Lehnen 1954.
6
Vilém Flusser, Das Bild, in: Für eine Philosophie der Fotografie, Berlin, Edition Flusser 2006, S. 9: „Diese dem Bild eigene Raumzeit ist nichts anderes als die Welt der Magie, eine Welt, in der sich alles wiederholt und in der alles an einem bedeutungsvollen Kontext teilnimmt.“
7
Markus Löffelhardt, Konstruktion und Idee, in: Hannes Norberg, Ausstellungskatalog Galerie Benden & Klimczak, Köln 2005, S. 6-11.
8
Donald Judd, Specific Objects, in: Kristine Stiles and Peter Selz, Theories and Documents of Contemporary Art: A Sourcebook of Artist's Writings, Berkeley and Los Angeles, University of California Press, 1996, S. 114-117.
9
Abbildungen der Werke aus den Jahren 1999 – 2005 in: Hannes Norberg, Ausstellungskatalog Galerie Benden & Klimczak, Köln 2005, S. 18, 39, 45, 51, 55, 61 und 63.
10
Überraschenderweise spricht Hannes Norberg häufig von dem Einfluss Cezannes auf seine künstlerische Entwicklung. Dieser Einfluss bezieht sich jedoch in der Hauptsache auf Cezannes Landschaftsdarstellungen aus Les Lauves, und hier vor allem des Mont Sainte Victoire. Denn auch in diesen Bildern gibt es eine merkliche Spannung zwischen Form und Wahrnehmung, zwischen dem Bewahren der Strukturen und ihrer gleichzeitigen Auflösung an der Oberfläche durch die Optik der Wahrnehmung selbst. Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, Hamburg, Meiner, 2003, S.275ff.
11
Den Ausdruck „Tubismus“ mit Bezug auf Léger erfand der französische Kritiker Louis Vauxcelles 1911 in spöttischer Absicht. Er bezeichnete damit die zylindrischen Formen in Légers Werken aus den Jahren 1909 bis 1919. Sie dienten zur Darstellung menschlicher Figuren und dazu, leblosen und belebten Objekten dieselbe Erscheinung zu geben. Vgl. Robet T. Buck, Fernand Léger, New York, Abbevill, 1982. Zu Mangold, siehe Richard Shiff, Robert Storr, Arthur C. Danto, Nancy Princenthal und Syliva Pilmack Mangold, Robert Mangold, London und New York, Phaidon Press, 2004.
12
Vgl. Anne Baldassari, Pablo Picasso, Papiers journaux. Paris 2000. Das Buch diente als Katalog für zwei Ausstellungen des Pariser Musée Picasso und des Irish Museum of Modern Art zu Picasso und seinem Umgang mit Zeitungen und papiers collés in seiner kubistischen und nachkubistischen Zeit.
13
Die Landkarte als Untergrund in No. 125 (2007) stellt einen Abschnitt der norwegischen Fjorde dar. Im Gespräch bezog Norberg sich auch auf De Chirico, der in seine Kompositionen manchmal gemalte Landkarten mit einbezog. Die weiße Fläche in dieser Arbeit erinnert in mancher Hinsicht an die leeren Kinoleinwände von Hiroshi Sugimoto.
14
Die Arbeit lässt an Caspar David Friedrichs Wrack im Eismeer (1824) denken. Norberg erwähnte im Gespräch eine Ausstellung zum Werk von Caspar David Friedrich in der Zeit, als No. 108 (2006) entstand, war aber nicht sicher, ob sie seine eigene Arbeit direkt beeinflusste oder nicht.
15
Vilém Flusser, Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design, Göttingen 1993
16
Leon Battista Alberti, Della Pittura / Über die Malkunst, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002.: „Zunächst muss man wissen, dass ein Punkt ein Zeichen ist, von dem man sagen kann, dass es nicht in kleinere Teile zerlegbar ist. Ein Zeichen nenne ich alles, was auf einer Oberfläche besteht, so dass es für das Auge sichtbar wird. Niemand wird leugnen, dass Unsichtbares für einen Maler ohne Interesse ist, denn er trachtet nur danach, sichtbare Dinge darzustellen.
Mark Gisbourne ist ein britischer Kunsthistoriker, Kritiker und Kurator und lebt in Berlin.
Erschienen in: Monografie Hannes Norberg, Salon Verlag, Köln, 2008. Mit Texten von Mark Gisbourne und Gregor Jansen, Englisch / Deutsch. Hardcover, 22 × 28 cm, 80 Seiten, ISBN 978-3-89770-334-6
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Konstruierte Wahrnehmung und die Ebene im Raum
Übersetzung aus dem Englischen: Herwig Engelmann
Eine unschuldige Wahrnehmung kann es nicht geben. Was wir von der Welt sehen, ist immer nur das Resultat eines Vorgangs, bei dem wir unterschiedliche Grade von wahrnehmender Bewusstheit erlangen. Der Akt des Hinsehens spielt dabei die Rolle einer aktiven oder passiven, angleichenden Erfahrung, die sich immer aus einem Aufnehmen und einem nach außen Abgeben zusammensetzt. Allgemein kann man unterscheiden zwischen dem Hinsehen, das eigentlich ein rezeptiver Vorgang ist, und dem Suchen, bei dem die Wahrnehmung einem mehr oder weniger klaren, gerichteten Impuls folgt.1
In unserer Wahrnehmung sind zwei Arten von Bewusstsein am Werk: das phänomenale und das psychologische. Natürlich schließt die phänomenal-psychologische Wahrnehmung immanente Inhalte und deren Wechselwirkung mit der Erfahrung eines Kunstwerks mit ein.2 Denn immer noch besteht ein Kunstwerk wesentlich in seiner Immanenz – im Gegensatz zur Wahrnehmung, die ja gerade über sich selbst hinausgeht und das aufsucht, was entweder jenseits ihrer selbst liegt oder überhaupt nicht da ist. Das lateinische Wort für Wahrnehmung, perceptio, hatte ursprünglich die Bedeutung von Einsammeln, Vergleichen, Prüfen. Die perceptio verwirklicht sich im Akt des Besitzergreifens und in einer entsprechenden Disposition des Geistes und der Sinne. Nicht zuletzt mit den modernen Methoden der Fotografie ist die Vorstellung eine Wahrheit im rezipierten Phänomen – im Gegensatz zur psychologischen Wahrheit des Betrachters – jedoch komplizierter und unbestimmter geworden.
Der Düsseldorfer Künstler Hannes Norberg konstruiert und erzeugt fotografische Wahrnehmungserfahrungen. Mit anderen Worten: Er schafft Bilder, die in einem unbestimmten Raum zwischen den Phänomenen und der Psychologie operieren. Das hat zunächst einmal die Wirkung, den alten cartesianischen Hut des Leib-Seele-Problems abzulegen,3 ohne zugleich der noch älteren Vorstellung von vorgegebenen idealen Formen anheim zu fallen.4
Schon vor langer Zeit hat der französische Kunsttheoretiker Henri Focillon viele strittige Fragen rund um die Bedeutung und Komplexität der Formen schlüssig beantwortet, ohne sich in einem Entweder-Oder zwischen konstruierender Wahrnehmung und innerer Idee zu verstricken. „Statt dessen müssen wir uns die Form in all ihrer Fülle und in ihren vielen zeitlichen Stadien vorstellen: Form als Konstruktion von Zeit und Raum, und je nachdem, ob sie in der Ausgewogenheit der Massen, in den Abstufungen zwischen Hell und Dunkel, in Ton, Pinselstrich und Körnung zum Ausdruck kommt, oder ob sie eine architektonische, skulpturale, gemalte, gravierte oder gedruckte ist.“5
Nun schrieb Focillon vor dem 2. Weltkrieg und damit vor Erfindung der modernen Konzeptfotografie. Aber seine Gedanken lassen sich ohne Mühe auf das zeitgenössische fotografische Bild mit all seiner Komplexität übertragen. In der heutigen Fotografie sind, vielleicht mehr als in jedem anderen Medium, Form und Wahrnehmung untrennbar mit einander verschmolzen.6 Das gilt im besonderen Maß für die Arbeit von Hannes Norberg. Seine Werke entwickeln formale Beziehungen zwischen räumlichen Elementen, die er so fotografiert, dass sich alle formalen Gewissheiten hinsichtlich Massen und Größenverhältnissen auflösen.
Verschiedentlich wurde behauptet, Norbergs Bauten und Modelle und deren fotografische Abbildungen folgten einem architektonischen Interesse.7 Sicher nehmen die Architektur und der bewusst verunklarende Umgang mit dem dreidimensionalen architektonischen Raum bei diesem Künstler einen hohen Stellenwert ein. Dennoch sind sie nicht das, worum es in seinem Bilderschaffen eigentlich geht. Norberg selbst rückt sein fotografisches Werk eher in die Nähe der Malerei. Die skulpturalen Raumformen, mit denen die Architektur gewöhnlich arbeitet, sind ihm weniger wichtig. Sein Werk ist eher eine persönliche Suche nach der Autonomie des Bildes, die er irgendwo zwischen Abstraktion und Figuration vermutet und die für ihn den eigentlichen Antrieb zu seiner Arbeit bildet. Die architektonisch konstruierten Inhalte sind zwar unverzichtbar, aber zugleich nur Mechanismen der Darstellung und Teil eines umfassenderen Prozesses. Nachdem Hannes Norberg in den Achtzigerjahren damit begann, Landschaften und Architekturen zu fotografieren, folgten diese Abbilder schon bald und immer mehr der Eigengesetzlichkeit des Bildes. Aus einem gleich bleibenden Blickwinkel aufgenommen, operieren die Fotografien in einem Zustand teilweiser Aufhebung mit dem Zweck, eine verkörperte Dauer bildlich fassbar zu machen – eine Schwelle zur Zeitlosigkeit, an der die Wahrnehmung dennoch konkret spürbar und präsent ist.
Die gebauten Inhalte der Fotografien entstehen einfach aus unterschiedlich dicken Styrodurplatten, wie sie zur Wärmedämmung verwendet werden. Diese Komponenten stellt Norberg in eine bestimmte formale Beziehung zu einander – entwickelt ausgehend von kleinen Freihandskizzen und anschließend weiter aus- gearbeitet in immer detailreicheren Studien auf Millimeterpapier und in dokumentarischen Fotos. Die Bauteile bemalt Norberg zumeist, bevor sie ihren Platz im jeweiligen räumlichen Feld finden. Dabei legt er großen Wert darauf, dass das Styrodur seine ursprüngliche haptische Qualität behält. Er vermeidet es bewusst, die Herkunft des Materials in der Bearbeitung zu verschleiern oder, wie die Minimalisten, es auf unterkühlte, beziehungslose Einzelobjekte zu reduzieren.8 So gelingt es dem Künstler, das Bewusstsein für die fortgesetzte visuelle Wechselbeziehung zwischen dem Wahrnehmungsvorgang und der Idee beziehungsweise dem Urbild zu schärfen. Das Ergebnis des fotografischen Prozesses geht bei ihm insgesamt dahin, die bildlichen Aspekte gegenüber den skulpturalen Qualitäten der Modelle hervorzuheben. Besonders in seinen früheren Werken aus den Jahren 1999 bis 2002 verwendete Norberg ein stark in die Breite gehendes, fast schon friesartiges Format – Beispiele dafür sind die Arbeiten No. 9 (1999) und Nr. 27 (2001).9 Der Grund dafür ist wohl, dass dieses Format den Akzent auf das Optisch-Bildhafte und auf die zeitliche Dauer legt. Auch dass die Motive ausschließlich frontal aufgenommen wurden, erhöht die Spannung in dem oben beschriebenen Zwischenraum der Wahrnehmung. Die Bilder bezeichnen und beschreiben also einerseits eine Dreidimensionalität, betonen andererseits aber die Fläche und Planimetrie (im Sinne der Erfassung einer ebenen Oberfläche). Diese gegenseitige Durchdringung von Fläche und Tiefe erzeugt den merkwürdigen Eindruck optischer Spannung in den Bildern und bewahrt zugleich eine paradoxe Zeitlosigkeit.10
Der Raum und seine Bindung an die Ebene sind das, was uns die erwartungsvolle Ruhe in Hannes Norbergs Fotografien erschließt. Und hier fällt auf, dass sich der Umgang des Künstlers mit Planimetrie und Raum über die Jahre kontinuierlich entwickelt hat. In einer Werkserie aus den Jahren 2000 bis 2004 setzt er sich besonders mit der von Henri Focillon so genannten „Ausgewogenheit der Massen" auseinander. Er arbeitet diese Massen heraus, indem er Schatten als Farbtöne über die Oberflächen der arrangierten skulpturalen und flächigen Komponenten wirft – mit der Folge, dass sich unsere Erfahrung der unterschiedlichen Volumen verändert und die Fotografien etwas Vexierendes, einen optischen Schauder an sich haben. Stasis und Fluss werden gleichzeitig suggeriert: Stasis durch die frontalen Ebenen und Flächen und die niedrigen Horizonte der räumlichen Anordnung, Fluss durch die ins Bildinnere verlagerten Modulationen des Farbtons. Die Ebenen nehmen jene eigenständige Beschaffenheit und Qualität an, die Gilles Deleuze eine „Immanenzebene“ genannt hat um auszudrücken, dass sie nicht in ihrer Besonderheit herausgestellt, sondern als unbestimmte Einzelheiten zur Geltung gebracht werden. Diese unbestimmte Einzelheit geht bis hin zur Autonomie, und um sie zu erkennen, braucht man sich eigentlich nur zu vergegenwärtigen, dass es im Leben der Formen einen wesentlichen Unterschied zwischen formaler Autonomie und Individualität gibt. Die Räume in Norbergs Bildern werden also formal bekräftigt und zugleich in Frage gestellt. Nur deshalb kann man hier überhaupt von einem „Leben der Formen" sprechen. Was auf den ersten Blick vielleicht den Eindruck von Unpersönlichkeit und distanzierter Konstruktion erweckt, nimmt in der Folge den Charakter einer sehr persönlichen Farbmodulation an. Auch daran zeigt sich, wie nahe Norbergs Werk der Malerei steht. Eine Arbeit wie No. 60/2 (2003) hat durchaus Ähnlichkeiten mit dem „Tubismus" eines Fernand Léger oder mit den schiefen (und doch völlig raumlosen) Winkeln, die man gelegentlich bei Robert Mangold findet.11
Wenn das nun alles ein wenig weit hergeholt erscheint, so lohnt sich vielleicht umso mehr die eingehende Betrachtung der Arbeiten No. 88 (2004) und No. 95 (2005), in denen die rückwärtige Ebene durch eine Wand mit Holzmaserung hergestellt ist, oder Neue Sicht der Dinge (2005/2007), wo ein rustiziertes Architekturmodell in einem zurück springenden Raum aus schwarz-weißem und farbigem Zeitungspapier steht. Hier sind wir scheinbar nicht mehr weit von den papiers collés und den späten Collagen der Kubisten entfernt – obwohl die künstlerischen Intentionen unübersehbar verschieden sind.12 Denn während im Kubismus und in der Collage diese „fremden“ Elemente (gemeinsam mit ihrer formalen Funktion) auf Ereignisse und potenzielle Erzählungen außerhalb des Werkes verwiesen, sollen sie in den fotografischen Bildern von Hannes Norberg keine Einzigartigkeit herausstellen und auch keine bestimmte Lesart hinsichtlich Zeit und Raum festlegen. Fleißige Erforscher der frühen modernen Kunst haben viel Zeit damit verbracht, die genaue Herkunft des Zeitungspapiers in kubis- tischen Werken oder die Hersteller der Tapeten mit Holzmaserungen im frühen 20. Jahrhundert zu ermitteln. Eine ähnliche Arbeit wäre im Fall von Norbergs Bildern weitgehend sinnlos. Obwohl der Künstler bewusst Schrifttypen oder andere externe Materialien wie Landkarten z.B. bei No. 125 (2007) einsetzt, geht die Funktion dieser Elemente bei ihm nicht über das formale Kontrastieren und Integrieren hinaus. Sie verstehen sich vor allem nicht als ein gesellschaftlicher oder kultureller Kommentar.13 In gewissem Sinn sind sie für Hannes Norberg reine Abstraktionen, im Gegensatz zu Repräsentanten von etwas, das aus der Welt abstrahiert oder extrahiert worden ist. Aus Sicht des Künstlers werden die Inhalte schlicht zu kleinen Modellen verarbeitet – mit dem einzigen Zweck, sie zu fotografieren. Obwohl sie visuelle Abwechslung und zwangsläufig auch deutbare Anspielungen an die Außenwelt mit sich bringen, hat das für den Umgang mit ihnen keine Bedeutung.
Mit den Arbeiten aus dem Jahr 2005 wird dann allerdings eine neue Entwicklung im Werk von Hannes Norberg erkennbar. Die Architekturmodelle sind ab diesem Zeitpunkt nicht mehr nur frontal aufgenommen. In manchen Fällen bleibt die Raumsituation an die horizontale und vertikale Ebene gebunden, etwa in No. 86 (2005): Hier sieht man im gebauten Raum ein leicht schräg stehendes, einzelnes Styrodurelement. In S.M.N. (2005) wird dieser Ansatz weiter entwickelt, denn hier ist eine Raumebene aus einem Winkel fotografiert, der einer verlängerten Diagonale des Architekturmotivs entspricht und damit die bildimmanente Konstruktion spiegelt. Das wirkt wie die Hervorhebung einer potenziellen Lichtquelle, und es führt uns als Betrachter dazu, diese Lichtquelle gleichzeitig zu hinterfragen. Gewöhnlich wird Licht eingesetzt, um unser Erfassen von Volumen und Massen zu steuern. Doch bei Norberg ist auch der Einsatz des Lichts sehr reduziert und auf die konstruierte Wahrnehmung abgestimmt, die alle seine fotografischen Bilder definiert. Er verwendet Licht nicht, um zu dramatisieren, sondern so, dass es genau wie seine Modelle nur eine weitere Komponente darstellt. In letzter Zeit ist aber auch hier ein Wandel erkennbar, denn die zuvor sehr klaren und reduzierten Architekturmodelle erscheinen zunehmend fragmentiert. Norberg ist also dazu übergegangen, die Komponenten selbst in ihrer bloßen Bedingtheit zu offenbaren. Am deutlichsten wird das vielleicht in den Arbeiten No. 108 (2006) und No. 109 (2006). In beiden Fällen hat der Künstler die Styroelemente nicht streng architektonisch komponiert, sondern schlicht im räumlichen Feld übereinander geschichtet. Interessanterweise erinnern gerade diese Arbeiten viel eher an Landschaften als seine gewohnten Architekturen, was man durchaus als eine Rückkehr zu seinen Anfängen im Bereich der Architektur- und Landschaftsfotografie verstehen kann. Ob sie nun als Landschaften gedacht sind oder nicht – in jedem Fall sind sie sehr bildhaft. Bei No. 108 (2006) etwa muss man unwillkürlich an das kühle bläuliche Weiß einer gebrochenen Eisscholle denken.14 Auch diese Bilder operieren in einem Raum zwischen den kargen, abstrakten Komponenten als solchen auf der einen Seite, und ihren erahnbaren Bedeutungen oder interpretierbaren figürlichen Anspielungen auf der anderen. Dass die Objekte im Bild eher zufällig oder ohne besonderen Formwillen gestapelt wirken, dramatisiert ihre Präsenz. Es bedeutet auch einen gewissen Bruch mit den früheren Arbeiten, in denen Norberg den Raum ausgehend von Ebenen und Flächen her erzeugt. Im Ergebnis findet sich unsere Bildwahrnehmung hier merkwürdig vervielfacht, indem der Blick subtile Farbunterschiede registriert und an den Punkten tonaler Veränderungen einhakt.
Obwohl Malerei und bildliche Darstellung also die entscheidenden Motivationen in der fotografischen Kunst von Hannes Norberg sind, ist es dennoch notwendig, hier noch einmal auf die Architektur zurückzukommen. Denn Hannes Norberg hat sich eben immer auch für Architektur und ihre Formen als solche interessiert, und seine Neugier beschränkt sich dabei nicht auf eine bestimmte Epoche des Bauens. Sie schließt antike Gebäude wie das Pantheon in Rom ebenso wie die moderne Architektur mit ein. Wie für viele andere fotografisch arbeitende Künstler ist die Architektur auch für Hannes Norberg Ausgangspunkt einer visuellen und wahrnehmungsorientierten Auseinandersetzung. Sein Interesse entzündet sich weniger am Statischen und Voluminösen der monumentalen Bauformen, als vielmehr an jenen Aspekten der Architektur, die eng mit der Wahrnehmung selbst zu tun haben.
In einem eigens für die Kirche des Dominikanerklosters St. Paulus in Worms entstandenen Projekt gestaltet der Künstler gemeinsam mit einem Architekturbüro zur Zeit einen neuen Seiteneingang in der Art eines leicht eingetieften, zeitgenössischen Grubenhauses. Die Konstruktion besteht im Wesentlichen aus Corten-Stahlplatten, die an die Außenmauer der Kirche angebaut sind und unterschiedliche Symmetrien bzw. Asymmetrien eröffnen. In den Anbau sind mehrere Glaswände integriert, die innen zum Teil durch Siebdruck mit Kreisformen versehen und außen durch Sandstrahlung mattiert sind. Diese Kreise variieren das Muster der Butzenscheiben in den alten Kirchenfenstern. In derselben Weise ist ein schmales Oberlicht mit den Maßen 0,6 × 2,6 Meter im Zentrum des Baus gestaltet, das die Dreidimensionalität hervorhebt und zugleich auf einer Grundfläche von nur 3,2 × 4 Metern eine visuelle Schwelle einzieht. Das farbige Glas in dem Bau ist ebenfalls im Mehrfachsiebdruckverfahren hergestellt und wurde, um besonders gesättigte Farben und hohe Haltbarkeit zu erzielen, bei der Herstellung auf 650 Grad erhitzt. So erzeugt der Portalbau eine ganze Reihe mehrdeutiger Wahrnehmungen: hart und weich, strukturiert und glatt, transparent und undurchsichtig. Was er aus Norbergs Arbeit mit der Fotografie und den Modellen übernimmt, ist die visuell erschlossene Dreidimensionalität und die Spannung im Umgang mit den Raumebenen. Während die Modelle aus den Fotografien im Moment der Präsentation verschwinden, findet bei diesem Bauwerk einumgekehrter Vorgang statt. Was mit einer fotografischen Erfahrung und Erforschung von Architektur und Raum begann, wird hier auf den Status eines tatsächlichen gebauten Objektes zurückgeführt.
Mein Eindruck ist, dass Hannes Norbergs Zugang zur Architektur und zum Raum in erster Linie ein optischer ist, weniger ein konzeptioneller. Er präsentiert Dinge als Objekte oder Modelle, aber zugleich untergräbt er subtil ihre scheinbare Stabilität als Objekte. Das scheint mir zentral für Norbergs Intuition eines Raumes zwischen der Wahrnehmung und dem Urbild, also zwischen dem, was wir tatsächlich sehen und dem, was wir zu sehen glauben. Dass das Verfahren ein optisch geleitetes ist, hat mit Norbergs Faszination für alles Bildhafte zu tun. Das ist auch gemeint, wenn er sagt: „Ich versuche, mit dem Fotoapparat zu malen." Die Idee und ihre Realisierung entspringen dem Arbeitsprozess und der Haltung des Künstlers gegenüber den Funktionsweisen des Apparats. Wenn es heute möglich ist, mit einer Kamera zu malen, dann nur deshalb, weil die zeitgenössische Fotografie es geschafft hat, mit ihren eigenen Methoden die Ziele der Malerei zu erreichen. Sie hat Dinge der Fotografie einverleibt, die zuvor nur den Malern möglich waren. Als Theoretiker des fotografischen Bildes hat Vilém Flusser darin eine Querverbindung zum Modell und zum Design erkannt, indem er das „Hin- und Her zwischen Inhalt und Behältnis, zwischen Material und Form, zwischen den materiellen und formalen Aspekten der Phänomene" als eine Errungenschaft der heutigen Fotografie und ihrer Auseinandersetzung mit der Malerei bezeichnete.15 Dem zu Grunde liegt ein neues Verständnis der Wahrnehmungsvorgänge und des fotografischen Prozesses. Ich habe diese Herangehensweise schlicht eine „konstruierte Wahrnehmung“ genannt. Sie ist zugleich der Punkt, von dem das neue Bilderschaffen seit der europäischen Renaissance seinen Ausgang nahm.16
Mark Gisbourne ist ein britischer Kunsthistoriker, Kritiker und Kurator und lebt in Berlin.
Erschienen in: Monografie Hannes Norberg, Salon Verlag, Köln, 2008. Mit Texten von Mark Gisbourne und Gregor Jansen, Englisch / Deutsch. Hardcover, 22 × 28 cm, 80 Seiten, ISBN 978-3-89770-334-6