Geradezu in den Raum hinein
Vincent Schubarth, 2022
Die Wahrnehmung beherrscht den Raum genau in dem Verhältnis, in dem die Tat die Zeit beherrscht.
Henri Bergson (aus: Materie und Gedächtnis, 1896)
In ihrer ersten gemeinsamen Ausstellung begegnen sich die Berliner Künstlerin Katja Pudor und der Düsseldorfer Künstler Hannes Norberg in den historischen Räumen des Palais’ für aktuelle Kunst. Performative und bildnerisch inszenierte Zeichensysteme durchdringen sich in beiden Werken als räumliche und zeitliche Schichtungen typografischer Notationen. Die Zeichnungen und Drucke entstanden überwiegend eigens für das Palais, zum Teil auch vor Ort und in fortlaufendem Prozess. [...]
Hannes Norberg inszeniert in seinen eigens für diese Ausstellung entwickelten Fotografien gefaltete und gewölbte Papierflächen, die durch typografische Strukturen in ihrer Plastizität konkretisiert werden. Die zeitgenössischen und historischen Fundstücke, darunter Horoskope, historische Übersichten und fragmentierte Alphabete aus asiatischen, arabischen und europäischen Schriftkulturen, sind vor allem in ihrer konstruktiven Repetition entscheidend für die bildnerischen Prozesse. Norberg, der selbst aus einer Familie mit einer eigenen Druckerei stammt, hat in Glückstadt Archiv-Bestände der Druckerei Augustin verarbeitet, die seit 1775 und insbesondere im frühen 20. Jh. internationale Bedeutung als Spezialdruckerei für asiatische Schriften im Bleisatz-Verfahren erwarb. Die hier gezeigten fotografischen Inszenierungen sind in ihrer technischen Vollendung konkret und entrückt zugleich. Sie verweisen mit optischer Differenziertheit auf ihre Mittel, die Art und Beschaffenheit des Papiers, den Farbauftrag, die unterschiedlichen Grade der Reproduktion und die Tiefenschärfe des Objektivs, und haben zugleich einen ganz offenen poetischen Grundton. Oberflächen aus Zeichenstrukturen entstehen in hoher Präzision gleichsam aus dem Nichts, die angedeutete Tiefe findet keinen Anker in einem Abbild, das Vorgestellte erscheint gleichsam in den Anführungszeichen des begrenzenden Bildrahmens. Hannes Norberg spielt in dieser Weise subtil mit formalen Assoziationen, die das Durchwandern des Bildraums als aktiven, konstruktiven Prozess des Sehens erfahrbar machen.
Vincent Schubarth ist ein deutscher Künstler und Kurator. Aktuell ist er Leiter des Palais für aktuelle Kunst in Glückstadt.
Erschienen anlässlich der Doppelausstellung Geradezu in den Raum hinein / Hannes Norberg und Katja Pudor im Palais für aktuelle Kunst Glückstadt, Mai bis Juli 2022
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Geradezu in den Raum hinein
Die Wahrnehmung beherrscht den Raum genau in dem Verhältnis, in dem die Tat die Zeit beherrscht.
Henri Bergson (aus: Materie und Gedächtnis, 1896)
In ihrer ersten gemeinsamen Ausstellung begegnen sich die Berliner Künstlerin Katja Pudor und der Düsseldorfer Künstler Hannes Norberg in den historischen Räumen des Palais’ für aktuelle Kunst. Performative und bildnerisch inszenierte Zeichensysteme durchdringen sich in beiden Werken als räumliche und zeitliche Schichtungen typografischer Notationen. Die Zeichnungen und Drucke entstanden überwiegend eigens für das Palais, zum Teil auch vor Ort und in fortlaufendem Prozess. [...]
Hannes Norberg inszeniert in seinen eigens für diese Ausstellung entwickelten Fotografien gefaltete und gewölbte Papierflächen, die durch typografische Strukturen in ihrer Plastizität konkretisiert werden. Die zeitgenössischen und historischen Fundstücke, darunter Horoskope, historische Übersichten und fragmentierte Alphabete aus asiatischen, arabischen und europäischen Schriftkulturen, sind vor allem in ihrer konstruktiven Repetition entscheidend für die bildnerischen Prozesse. Norberg, der selbst aus einer Familie mit einer eigenen Druckerei stammt, hat in Glückstadt Archiv-Bestände der Druckerei Augustin verarbeitet, die seit 1775 und insbesondere im frühen 20. Jh. internationale Bedeutung als Spezialdruckerei für asiatische Schriften im Bleisatz-Verfahren erwarb. Die hier gezeigten fotografischen Inszenierungen sind in ihrer technischen Vollendung konkret und entrückt zugleich. Sie verweisen mit optischer Differenziertheit auf ihre Mittel, die Art und Beschaffenheit des Papiers, den Farbauftrag, die unterschiedlichen Grade der Reproduktion und die Tiefenschärfe des Objektivs, und haben zugleich einen ganz offenen poetischen Grundton. Oberflächen aus Zeichenstrukturen entstehen in hoher Präzision gleichsam aus dem Nichts, die angedeutete Tiefe findet keinen Anker in einem Abbild, das Vorgestellte erscheint gleichsam in den Anführungszeichen des begrenzenden Bildrahmens. Hannes Norberg spielt in dieser Weise subtil mit formalen Assoziationen, die das Durchwandern des Bildraums als aktiven, konstruktiven Prozess des Sehens erfahrbar machen.
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